Nach 80 Demos sieht das Bündnis „Dienst-Tag für Menschen“ nun die Politik in der Verantwortung
Über 80 Mal sind Beschäftigte der Behindertenhilfe, der Pflege und des Gesundheitswesens in den letzten zwölf Monaten auf die Straße gegangen. Unter dem Motto „Dienst-Tag für Menschen“ machten sie in Würzburg, München, Nürnberg und Amberg auf untragbare Missstände aufmerksam. Sie forderten beispielsweise eine 35-Stunden-Woche, mehr Personal und weniger Bürokratie. Jetzt ist die Politik an der Reihe, entschlossen zu handeln. Nach den Bundestagswahlen wird es deshalb keine weiteren Demonstrationen geben. Sein Engagement für die helfenden Berufe will das Bündnis „Dienst-Tag für Menschen“, dem 28 gemeinnützige Organisationen angehören, aber fortsetzen.
Als sich vor über einem Jahr am 15. September 2020 zum ersten Mal rund 50 Demonstrierende am Unteren Markt in Würzburg versammelten, um für bessere Bedingungen in der Pflege, dem Gesundheitswesen und der Behindertenhilfe zu werben, war der Applaus für Pflegekräfte während der ersten Welle der Corona-Pandemie bereits verhallt. Deutlich wie nie zuvor war der immense Druck sichtbar geworden, der auf unserem Pflege- und Gesundheitssystem lastet und sich vor allem im Personalnotstand ausdrückt: Intensivbetten waren nicht besetzt worden, weil Pflegekräfte fehlten.
„So kann es nicht weitergehen“
Mehr als 20 gemeinnützige Organisationen aus Würzburg und der Umgebung hatten sich nach dem Rückgang der Infektionszahlen im Sommer 2020 innerhalb weniger Wochen zum Bündnis „Dienst-Tag für Menschen“ zusammengeschlossen, weitere folgten. „Es war höchste Zeit, das klare Signal auszusenden: So kann es nicht weitergehen“, erinnert sich Walter Herberth, Oberpflegamtsdirektor der Stiftung Juliusspital Würzburg zurück. Zusammen mit Annette Noffz, Leitende Stiftungsdirektorin der Stiftung Bürgerspital zum Hl. Geist, und Johannes Spielmann, Vorstand der Blindeninstitutsstiftung, hatte er deshalb mit der Idee zu wöchentlichen Demonstrationen schnell Mitstreiterinnen und Mitstreiter anderer Kliniken, Pflege- und Behinderteneinrichtungen gefunden.
„Über Würzburg hinaus sichtbar sein“
Der ersten Demonstration folgten jeden Dienstag weitere Kundgebungen in der Juliuspromenade, bis der zweite Lockdown im Dezember das Bündnis zu einer dreimonatigen Winterpause bewegte. Mit neuer Kraft und Unterstützung aus der bayerischen Landeshauptstadt ging es im März 2021 weiter. „Wir wollten über Würzburg hinaus sichtbar sein und haben uns sehr gefreut, dass sich auf Initiative der Vorsitzenden des Bayerischen Landespflegerates Generaloberin Edith Dürr die Schwesternschaften vom Bayerischen Roten Kreuz in München, später auch in Nürnberg und Amberg unserer Aktion angeschlossen haben“, resümiert Annette Noffz. Schnell stand fest, dass die Demonstrationen bis zur Bundestagswahl fortgeführt werden.
„Große Zustimmung über die Parteigrenzen hinweg“
Parallel zu den Kundgebungen suchte das „Dienst-Tag“-Bündnis den Austausch mit Abgeordneten der großen demokratischen Parteien, dem Bayerischen Gesundheitsminister Klaus Holetschek und der Landtagspräsidentin a. D. Barbara Stamm, aber auch mit der Gewerkschaft verdi, dem Kommunalen Arbeitgeberverband Bayern und dem Würzburger Bischof Dr. Franz Jung. „In den Gesprächen haben wir gemerkt, dass es zwar über die Parteigrenzen hinweg große Zustimmung zu unseren Forderungen gibt, bei manchen Punkten aber auch deutliche Zurückhaltung
oder Widerspruch“, sagt Johannes Spielmann.
Differenzen bei der Forderung nach der 35-Stunden-Woche
Um diese Unterschiede vor der Bundestagswahl auch einem größeren Publikum aufzuzeigen, lud das Bündnis „Dienst-Tag für Menschen“ am 14. September 2021 die Bundestagsabgeordneten Martina Stamm-Fibich (SPD), Dr. Manuela Rottmann (Bündnis 90/Die Grünen), Prof. Dr. Andrew Ullmann (FDP) und Emmi Zeulner (CSU) zu einer Diskussionsrunde in die Würzburger Posthalle ein. Während sich die Gesundheitsexpertinnen und -experten darin einig waren, dass Dokumentationspflichten verringert, mehr Personal für die helfenden Berufe gewonnen und eine ordentliche Bezahlung ermöglicht werden muss, offenbarte vor allem die Forderung nach einer 35-Stunden-Woche bei vollem Lohnausgleich konträre Positionen.
Positionspapier: Keine Dividende durch Gesundheits- und Sozialleistungen
Am Ende der Diskussionsrunde vor 120 Gästen erhielten die Abgeordneten das Positionspapier mit den konkreten Forderungen des „Dienst-Tag“-Bündnisses als Vorlage für die anstehenden Koalitionsverhandlungen. Darin findet sich neben den bereits genannten auch die Forderung, dass Gewinne durch Gesundheits- und Sozialleistungen in den Organisationen verbleiben sollen und nicht in Form von Dividenden an Aktionäre oder Unternehmenseigner ausgezahlt werden dürfen.
„Es braucht keine Reform, sondern eine Revolution!“
Nach über 80 Kundgebungen in Würzburg, München, Nürnberg, Amberg versammelten sich am Dienstag vor den Bundestagswahlen zum letzten Mal Beschäftigte aus den teilnehmenden Organisationen zum Demonstrieren. „Unsere Mitarbeitenden haben in den letzten zwölf Monaten mehr als deutlich gemacht, wie ernst die Lage ist“, finden Annette Noffz, Walter Herberth und Johannes Spielmann. „Wir haben Lösungsvorschläge formuliert: Jetzt sehen wir die neu gewählten Bundestagsabgeordneten in der Pflicht, ihren Ankündigungen auch Taten folgen zu lassen. Es braucht keine Reform des Gesundheits- und Pflegesystems, sondern eine Revolution!“
Engagement fokussiert sich auf politisch Verantwortliche
Sein Engagement wird das Bündnis „Dienst-Tag für Menschen“ zukünftig auf andere Art und Weise fortsetzen: Die neu gewählten Bundestagsabgeordneten in Unterfranken werden ein Gratulationsschreiben mit dem Positionspapier erhalten und später sollen die Mitglieder der Gesundheits‑, Arbeits- und Sozialausschüsse des zukünftigen Bundestages kontaktiert werden. Spätestens in einem Jahr will das Bündnis auch Martina Stamm-Fibich, Dr. Manuela Rottmann, Prof. Dr. Andrew Ullmann und Emmi Zeulner wieder treffen, um Bilanz zu ziehen, was sich bis dahin verbessert hat. Doch auch für die Würzburger Bevölkerung soll die Aktion „Dienst-Tag für Menschen“ weiterhin sichtbar bleiben: Jeden Dienstag werden deshalb die Banner mit den Forderungen des Bündnisses an der Fassade des Juliusspitals aushängen. Sollten sich keine spürbaren Verbesserungen für die Beschäftigten im Gesundheitswesen, der Pflege und der Behindertenhilfe abzeichnen, behält sich das Bündnis zudem vor, wieder auf die Straße zu gehen.