Nach einer Diskussion mit Gesundheitsexperten in Würzburg zieht das Bündnis „Dienst-Tag für Menschen“ Bilanz
„Wahl 2021: Wir entscheiden über die Zukunft der Pflege“ – unter diesem Titel diskutierten Gesundheitsexpertinnen und -experten von Bündnis 90/Die Grünen, CSU, FDP und SPD am 14. September 2021 in der Würzburger Posthalle. In einem Punkt zeigten sich alle einig mit der Forderung des Bündnisses „Dienst-Tag für Menschen“: Die Arbeitsbedingungen für Beschäftigte in helfenden Berufen müssen sich verbessern. Vor allem die 35-Stunden-Woche bei vollem Lohnausgleich zeigte aber deutliche Unterschiede in der Positionierung der Bundestagsabgeordneten auf. Das „Dienst-Tag“-Bündnis zieht eine überwiegend positive Bilanz.
Als „Nerds der Politik“ bezeichnete Prof. Dr. Andrew Ullmann (FDP) gleich zu Beginn der Diskussionsrunde sich und seine Kolleginnen Dr. Manuela Rottmann (Bündnis 90/Die Grünen), Emmi Zeulner (CSU) und Martina Stamm-Fibich (SPD). Alle vier setzen sie sich als Abgeordnete im Gesundheitsausschuss des Deutschen Bundestages täglich mit gesundheitspolitischen Fragen auseinander und kennen die Probleme der Branche.
Sie wissen auch, dass es dem Bündnis „Dienst-Tag für Menschen“, dem 28 Organisationen aus Würzburg, München, Amberg und Nürnberg angehören und das seit einem Jahr für bessere Arbeitsbedingungen demonstriert, ernst ist, wenn es vor einer möglichen „humanitären Katastrophe in der Pflege“ warnt.
Für grundlegenden Systemwechsel und mehr Personal
Vor 120 Gästen in der Würzburger Posthalle stimmten die vier Abgeordneten deshalb vielen Forderungen des „Dienst-Tag“-Bündnisses zu, die Moderatorin Andrea Czygan (Main-Post) zur Diskussion stellte: Dokumentationspflichten verringern, mehr Personal für die helfenden Berufe gewinnen und eine ordentliche Bezahlung ermöglichen.
Einig waren sie sich auch darin, dass es einen grundlegenden Systemwechsel in der Gesundheits- und Pflegebranche brauche. Schluss müsse sein mit der Zeit der „Rosinenpickerei“: So sollten private Unternehmen nicht mehr die Möglichkeit haben, sich auf besonders lukrative Gesundheits- und Pflegeleistungen zu spezialisieren und die defizitären Bereiche wie beispielsweise Entbindungsstationen kommunalen oder gemeinnützigen Trägern zu überlassen.
Unterschiedliche Positionen zur 35-Stunden-Woche
Unterschiedliche Positionen wurden dagegen beispielsweise bei der Forderung nach einer 35-Studen-Woche deutlich. Während Martina Stamm-Fibich (SPD) daran erinnerte, dass die 35 Stunden in der Metallindustrie nach langem Kampf schon lange Realität seien, aber um Geduld warb, wollte Emmi Zeulner (CSU) angesichts des demografischen Wandels nicht versprechen, dass die Forderung in Koalitionsverhandlungen Aussicht auf Erfolg haben werde.
Prof. Dr. Andrew Ullmann (FDP) sah in einer politischen Vorgabe der Arbeitszeit die Tarifautonomie gefährdet und sprach sich gegen eine Bevorzugung einer bestimmten Berufsgruppe aus. Dagegen forderte Dr. Manuela Rottmann (Bündnis 90/Die Grünen) nicht nur politische Unterstützung der Träger bei der Refinanzierung einer 35-Stunden-Woche, sondern kritisierte auch deutlich die „Organisation“, die kein Interesse daran habe, dass sich etwas ändere.
Barbara Stamm für mehr Zuständigkeiten für die Politik
Dieser Kritik an der Macht der Kranken- und Pflegekassen schloss sich Landtagspräsidentin a. D. Barbara Stamm an, die die Moderatorin Andrea Czygan als Interviewgast in die Diskussion einband. Sie berichtete von Koalitionsverhandlungen in ihrer Zeit als Gesundheits- und Sozialpolitikerin, in denen am Abend schon beschlossen worden war, den Medizinischen Dienst zu einem eingetragenen Verein oder einer Körperschaft des öffentlichen Rechts umzuwandeln. „Über Nacht war die Lobby unterwegs gewesen“, so Stamm, „am Morgen war das vorbei.“ Die Politik müsse wieder mehr an Zuständigkeiten zurückholen, forderte sie.
Positionspapier als Vorlage für Koalitionsverhandlugen
Am Ende der Veranstaltung überreichten Annette Noffz (Stiftung Bürgerspital zum Hl. Geist), Walter Herberth (Stiftung Juliusspital Würzburg), Karsten Eck (Orthopädische Klinik König-Ludwig-Haus) und Johannes Spielmann (Blindeninstitutsstiftung) das Positionspapier des Bündnisses „Dienst-Tag für Menschen“ an die vier Bundestagsabgeordneten. In welcher Konstellation auch immer die nächste Bundesregierung sich zusammensetze, für die anstehenden Koalitionsverhandlungen solle das Positionspapier „ganz, ganz klare Sätze“ liefern.
Johannes Spielmann empfahl dem Publikum auch, einen Blick in die Wahlprogramme der Parteien zu werfen, da diese größere Unterschiede im Bereich der Pflege- und Gesundheitspolitik offenbarten, als dies in der Diskussion deutlich geworden sei. In zwölf Monaten wolle das Bündnis nach Berlin fahren, um sich mit den vier Bundestagsabgeordneten darüber zu unterhalten, welche der Forderungen verwirklicht worden sind und welche auf dem Weg sind.
Bilanz: Der gute Wille allein reicht nicht
Das „Dienst-Tag“-Bündnis zieht nach der Diskussionsrunde der Gesundheitsexpertinnen und -experten in der Posthalle eine überwiegend positive Bilanz. Fest steht: Es darf nicht bei schönen Worten bleiben und die Verantwortung wie seit vielen Jahrzehnten im Kreis herumgeschoben werden. Die Interessensvertretung der Pflege- und Gesundheitsberufe muss deutlich stärker als bisher in die politische Willens- und Entscheidungsbildung eingebunden werden – das gebietet die Wertschätzung und der Respekt vor den jeweiligen Berufsgruppen.
Auf der anderen Seite zeigte die Veranstaltung auch: Unter den Gesundheitsexpertinnen und -experten der vertretenen Parteien ist der Wille groß, die Rahmenbedingungen in der Pflege, der Behindertenhilfe und dem Gesundheitswesen zu verbessern. Allein fraglich bleibt, wie viel Platz gesundheitspolitische Themen in voraussichtlich langwierigen Koalitionsverhandlungen und wie viel Rückhalt sie in ihren Parteien finden werden.
Um ihnen – in welcher Parteien-Konstellation auch immer – den Rücken zu stärken, wird das Bündnis sicher auch über die Bundestagswahl am 26. September 2021 hinaus sein Engagement fortsetzen und spätestens in einem Jahr noch einmal Bilanz ziehen.